Samstag, 24. Februar 2024

Mein täglicher Spaziergang - oder der Furor von Olga, Santiago, Nohora und den anderen

Fotos aus dem Gruppen-Chat

Wenn es trüb aussieht, nehme ich den Schirm. In der Regel brauche ich ihn dann nicht. Wenn ich ihn jedoch nicht mitnehme, so kann ich mir fast sicher sein, dass ich auf meinem Spaziergang verregnet werde.

Vor dem Haus begegne ich zuerst oft Benjamin. Er wohnt gegenüber, sitzt gerne auf dem Treppenabsatz vor seinem Haus, raucht Zigaretten und bearbeitet sein Handy. Seine Tür steht dann offen, und aus dem Hintergrund ertönt jeden Tag ein anderes Genre Musik. Die Stücke reichen von Dmitri Schostakowitsch über Vivaldi bis zu John Coltrane. Ich fühle mich jeweils bei meinem Gruss über die Strasse aufgefordert, die Musik zu erraten, die gerade vom Innern seines Hauses heraustönt, und ich konnte Benjamin mit meinem Wissen schon ein paarmal überraschen. Er ist ein schwarzhaariger, bärtiger Argentinier von eher kleinem Körperwuchs. Er fährt ein elegantes, schwarzes Fahrrad mit blauleuchtenden Felgen. Er studiert Musikkomposition an der Uni Nacional. Erst kürzlich erfuhr ich, dass er und seine Wohngenossen, die ich eher selten zu Gesicht bekomme, Vegetarier sind. Als wir nämlich das letzte Mal etwas von unserem Weihnachtshuhn hinüberbrachten, bedauerte er, sie würden kein Fleisch essen. Gleichwohl nahm er unsere Gabe an, denn sie erwarteten am selben Nachmittag Freunde, von denen er wusste, dass sie das Mitgebrachte gerne verspeisen werden.

Einmal auf der Strasse gehört zur täglichen Routine die Entscheidung, in welche Richtung ich mich denn diesmal bewegen soll. Gegen Norden, ins Chico, ginge es in eine vornehmere Gegend, wo für die Bewohner Strom, Wasser, Telefonabonnement und Abfallentsorgung um die Hälfte teurer sind als bei uns. Dort könnte ich mich mit einem feinen Cappuccino im Café Pomeriggio für meinen Spaziergang belohnen, serviert von weiss livrierten Kellnern.

In Richtung Süden reicht mein Perimeter normalerweise bis zur Buchhandlung Santo & Seña an der 4. Carrera mit der 54. Strasse. Dort gibt es auch Kaffee, vor allem aber gibt es dort Bücher, die zum Verweilen und zum Kauf anregen. Dort überkommen mich meistens Erinnerungen an meine eigene Buchhändlerzeit in Bogotá: der Geruch des Papiers, die gedämpfte Stimmung, die Gewissheit, wenigstens etwas mit allen anderen in diesem Raum zu teilen, nämlich die Liebe zum geschriebenen Wort. Wobei zum heutigen Sortiment einer anständigen Buchhandlung auch Comics, Vinyl-Schallplatten und Fanzines unterschiedlichster Provenienz gehören, was damals bei meinem Chef Karl Buchholz undenkbar gewesen wäre. Er war Vertreter der reinen Buchdeckel-Lehre. Schon Broschuren fasste er lediglich mit spitzen Fingern an, schliesslich verdiente er daran viel weniger, und sie wurden auch viel schneller alt und sahen vergriffen aus. Seine wahre Leidenschaft aber war der Kunsthandel. Dort fasst man die Gegenstände in der Regel schon gar nicht an, oder dann nur mit weissen Archivhandschuhen.

Gegen Osten hin würde mich ein steiler Anstieg erwarten an unseren Lieblingsrestaurants (zum Beispiel dem Salon Tropical oder dem Tierra) und weiter bergauf an den schwedischen und russischen Botschaften vorbei bis zur Quebrada La Vieja, einem steilen Tälchen bergauf, das Wanderern eigentlich nur an Wochenenden auf Anmeldung hin offensteht.

Im Westen schliesslich liegt der eher schmucklose Stadtteil Barrios Unidos, der aber insofern interessant ist, als man dort weder interessante Kunstgalerien, ausgezeichnete Fisch-Restaurants noch schöne Parks erwartet. Doch es gibt sie, und gerade deshalb sind sie bei einem Spaziergang einer Entdeckung wert.

Ich weiss allerdings nicht, ob ich textlich einen ganzen Rundgang in alle vier Himmelsrichtungen zusammenbringe. In den ersten 100 Metern passiert bereits so viel Berichtenswertes, dass das verbale Abschreiten aller Optionen wohl Romanvolumen annehmen würde, was ich sowohl mir als auch der Leserschaft nicht zumuten möchte.

Die Begegnung mit dem zahnlosen, herzensguten Carlos, der zehn Jahre älter aussieht als er ist, gehört zum festen Bestandteil eines jeden Spaziergangs. Entweder schlürft er grad einen Tinto bei Juan next door, der dort Portier ist, oder er versucht, seiner Arbeit nachzugehen, nämlich auf geparkte Autos am Strassenrand aufzupassen und auf ein paar Pesos zu hoffen, wenn der Besitzer zurückkehrt. Unser Grussritual besteht in einem Fingerzeig gegen den Himmel. Regen? Sonne? Meistens stecke ich ihm darauf ein paar Pesos zu mit der Bemerkung, mein Auto stehe dort drüben, und er solle gut aufpassen, damit es nicht gestohlen werde. Natürlich stimmt das so nicht, denn mein Auto steht ja wohlversorgt in unserer Garage. Doch Spass muss sein, und es soll nicht nach Almosen aussehen. Dann lachen wir beide und gehen unserer Wege.

Im nächsten Haus befand sich vor der Pandemie ein Swingerclub mit einem Jacuzzi-Bad im Treppenhaus. Ich weiss das, weil morgens jeweils die Putzfrau vor unserem Haus auf die Ankunft des Betreibers wartete und mir allerlei berichtete von den Überbleibseln der vorangegangenen Nacht. Der neue Besitzer jedoch, der zuweilen mit seinem neuen Volvo vorfährt und zum Rechten schaut, vermietet heute die Räumlichkeiten Start-ups und politischen Kampagnen. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hat sich der mittlerweile gewählte Bürgermeister Bogotás, Carlos Fernando Galán, mit seinem Team für die Wahlvorbereitungen dort einquartiert. Es wird behauptet, er sei nur deshalb gewählt worden, weil sein Vater, Luis Carlos Galán, einst Präsidentschaftskandidat Kolumbiens, 1989 von politischen Gegnern ermordert worden sei. Der Sohn habe also vom Mitleidbonus profitiert. Befand sich Galán in der Nachbarschaft, so war die ganze Strasse jeweils mit kugelsicheren und mit verdunkelten Scheiben versehenen Toyota Cruisern und Polizeieskorten überstellt, an deren wartenden Fahrern und an den Zigaretten rauchenden Leibwächtern ich mich, freundlich grüssend, vorbeischlängeln musste. Ihre Präsenz erhöhte mein Sicherheitsgefühl nicht unbedingt. Sie führte mir eher vor Augen, mit welchen Gefahren hier zu rechnen ist. Es ist aber auch ein Ding des Prestiges: je mehr Aufwand um eine Person, umso mehr Wichtigkeit wird ihr zugeschrieben.

An unserer Strasse befindet sich auch ein peruanisches Restaurant, klein, fein und teuer. Wir gingen dort schon ein paarmal essen. Doch dann verleidete es uns, weil der Kellner Jhon, der uns vom Vorbeigehen her bestens kennt, jedes Mal so ausführlich erklärte, was er uns gerade auftischt, dass die Speisen zum Schluss nur noch lauwarm waren.

Vor dem Peruaner sitzt morgens jeweils Fernando, der mich doctor nennt. Er dürfte um die 60 sein. Muy buenos dias, doctor. Como esta, doctor?, sagt er jeweils. Dann öffnet er unaufgefordert seine Brieftasche und zeigt mir die Einladung zu seinem nächsten Arzttermin, was mich immer etwas verlegen macht. Ich ging auch schon Umwege, um ihm nicht zu begegnen. Seine Krankheitsgeschichten kenne ich mittlerweile auswendig: Kropf und schmerzhafte, geschwollene Beine, manchmal Rücken und Gicht. Er glaubt bekenntnisreich an Gott, der ihn tröstet und schon weiss, was für ihn vorgesehen ist. Er verkauft an seinem kleinen Stand Lutschbonbons und Zigaretten und wäscht auf Wunsch den Parkierenden auch deren Autos. Zu Weihnachten bekommt er von mir etwas zugesteckt.

Ab und zu begegne ich auch Jaime, das heisst, er ruft mir vom dritten Stock aus zu, wo er gerade altes Brot auf die Strasse schmeisst und so die Tauben rund ums Haus füttert. Er kann ein paar Brocken Deutsch, die er bei jeder Begegnung anbringt. Er ist kleinwüchsig und ein Dandy, zieht sich also extravagant an und trägt auf der Strasse einen Strohhut, unter welchem die zu einem Rossschwanz gebundenen, weissen Haare hervorlugen. Es ist zuweilen schwierig, sich von ihm wieder zu lösen, denn am liebsten verstrickt er einen in einen never ending Monolog über die ganzen Stockwerke hinweg. Manchmal macht er mit seiner Partnerin Lili, die in der Nachbarschaft den Musikclub Matik Matik führt, und mit seiner Exfrau einen Ausflug in seinem stets putzfein gewaschenen, eleganten schwarzen Mercedes aus dem Jahre 1961.

Etwas seltener begegne ich Liz. Sie ist Galeristin und bespielt mit ihrer Kunst internationale Messen in Mexiko-City, São Paulo und Miami. Sie wohnt mit ihrem Gatten, einem Computerfachmann und Liebhaber von Vinyl-Schallplatten, zwei Häuser weiter oben in einem Objekt, das lange Zeit zum Verkauf stand. Auch wir interessierten uns damals dafür, doch es schien uns etwas teuer angesichts der vielen Dinge, die noch hätten renoviert werden müssen. Die beiden sind jetzt dort zur Miete. Doch sie beklagen sich über die Feuchtigkeit im Haus und über ignorante Vermieter.

Vor ein paar Monaten lud mich Liz ein, einem Nachbarschafts-Chat beizutreten. Dort würden Belange des Quartiers verhandelt. Zum Chat gehöre auch eine direkte Linie zur Polizei, die man wählen könne, wenn Gefahr droht. Das sei effizienter, als wenn man sich als Einzelperson über die Nummer 123 an die Polizei wenden müsse.

Seit ich Teilnehmer dieser Nachbarschaftsverbindung bin, ist nichts mehr wie früher, und meine Spaziergänge drohen in Depressionen zu enden. Der Chat wird von geschätzten 60 Nachbarn fleissig genutzt, so fleissig und erbarmungslos, dass einem davon übel werden kann. Olga, Santiago, Nohora und ein Dutzend andere lassen hier ihren Beobachtungen, Verdächtigungen, Ohnmachtsgefühlen, Früsten, Anschuldigungen und Ressentiments freien Lauf. In ihren Augen lauert an jeder Strassenecke des Quartiers ein suspektes Subjekt. Kürzlich zum Beispiel parkte ein Gast von mir sein Mietauto vor unserem Haus, und plötzlich musste ich dem Chat entnehmen: „Polizei-Patrouille bitte an Calle 68#11-63, verdächtiges Fahrzeug steht seit drei Stunden hier…“ Ein Foto wurde auch gleich beigefügt. – Umgehend musste ich antworten, das Fahrzeug gehöre einem Gast von mir. Ich konnte es mir nicht verkneifen anzufügen, dass vielleicht nicht jedes geparkte Auto verdächtig sei…

Hauptthemen sind Abfall und geparkte Autos, gefolgt von Lärmbelästigungen und Drogenkonsum. Ja, unsere ruhige Strasse wird von Jugendlichen der nahen Schulen gerne frequentiert, um sich hier einen Joint zu drehen und hereinzuziehen, und es kommt öfters vor, dass mein Heimweg durch Schwaden von Marijuana-Rauch führt. Nicht weiter schlimm in meinen Augen, doch Santiago, den ich persönlich nicht kenne, bekommt deswegen im Chat regelmässig Panikattacken. Kaum identifiziert er eine rauchende Gruppe, ruft er nach einer Polizeipatrouille. – Während ich diese Zeilen hier schreibe, jetzt, am Samstag, 24. Februar, 17.38 Uhr, verschickt Olga gerade zehn Fotos von falsch geparkten Autos und bittet, die Polizei solle doch umgehend vorbeikommen. Und ich denke dabei intensiv an den herzensguten, armen Carlos, der sich seine paar Pesos mit dergestalt geparkten Autos verdient. Kürzlich, so berichtete er mir, hätte ihn die Polizei fortgeschickt unter dem Hinweis, hier habe er nichts zu suchen. Ich dachte sogleich, diese Aktion sei unserem Chat zu verdanken. Woher soll er jetzt, klagte er mir, die paar Pesos bekommen, die ihm bisher sein knappes Überleben sicherten? – In derselben Manier verfährt unser Chat mit den Abfallverwertern mit ihren grossen Schubkarren. Sie durchwühlen Abfallsäcke am Strassenrand und entnehmen unter Hinterlassung von stinkendem Müll Reziklierbares, um damit ein paar Pesos zu verdienen. Im Chat sind sie aber nur als lästiges Gesinde identifiziert, und Nohora, die offenbar eine Schwiegertochter in der Schweiz hat und sie einmal besuchen ging, schwärmte davon, dass es dort sowas nicht gebe.

Nun trage ich mich mit dem Gedanken, aus dieser unerträglichen virtuellen Gemeinschaft wieder auszusteigen. Wie kann ich meinen Spaziergang geniessen, wenn ich mich umstellt sehe von missgünstigen Nachbarn, die hinter ihren Vorhängen den lieben langen Tag das Geschehen auf der Strasse beobachten und Verdächtigungen kultivieren?

Vorgestern allerdings hatten wir wieder einmal den Sänger vor unserem Haus, der alle zwei bis drei Monate im Vollsuff auftaucht und mit seiner rauhen Stimme und falschen Gitarrenklängen von Mitternacht bis zum frühen Morgen Flamencoähnliches von sich gibt. Es gibt niemanden in unserer Strasse, der davon nicht geweckt wird, und ich dachte, jetzt sei der Moment, die Nützlichkeit einer direkten Linie zur Polizei unter Beweis stellen zu können. Subito vermeldete ich den Tatbestand und wartete am Fenster auf die Ankunft einer Polizeipatrouille, um den Störefried zum Schweigen zu bringen. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, meine Füssen wurden schon kalt, so dass ich mir Socken überstreifen musste. Doch nichts geschah. Der nimmermüde Sänger waltete immer noch seines vom Alkohol diktierten Amtes. Auch Nachbarin Liz verlangte nach einer Patrouille, dreimal, wie ich dem Chat entnehmen konnte, und auch ich doppelte alle halbe Stunde nach. Um halb fünf morgens schliesslich zog er davon - ohne polizeiliche Aufforderung.

Ich sehne mich nach meinen früheren, sorgenfreien Spaziergängen zurück und beobachte den Zwiespalt, der sich vor meinen Augen auftut. Ich verstehe ja, dass sich meine Nachbarn nach einem ordentlichen Leben sehnen, wie es ihnen die Schweiz vormacht, und gleichzeitig anerkenne ich die Notwendigkeit, dass arme Schlucker und Strassenbewohner mit irgendwelchen Drehs in dieser chaotischen, korrupten Stadt zu überleben versuchen, einer Stadt, die nicht bereit scheint, ihren ärmsten Einwohnern entgegenzukommen. Und wenn wir schon dabei sind: eigentlich gehört auch die Polizei mit ihren Minimallöhnen hier zu den armen Schluckern, angewiesen auf Zusatzeinnahmen, die mit der Wegweisung von Abfallverwertern und Störefrieden nicht zu erwirtschaften sind. Da hält man sich doch eher an Falschparker, die sich mit ein paar Geldscheinen freikaufen und am nächsten Tag wieder dort auftauchen, wo es meine Chatgemeinschaft stört.  

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©Nikolaus Wyss

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Montag, 8. Januar 2024

Rösti in Kalkutta

Sterbekönigin Mutter Theresa. Skulptur in ihrer kosovarischen Heimat
 

    Ende 2003 befand ich mich emotional in einer prekären Gemengelage: beruflich stand ich auf der Abschussliste meines obersten Chefs unserer Fachhochschule, weil er sich mit meinem Stil und meiner Strategie für unsere Kunsthochschule nicht anfreunden mochte und mir offenbar nicht zutraute, es recht zu machen. Er habe sich, so wurde mir kolportiert, in seinen Gremien verschiedentlich negativ zu meiner Person geäussert und angedroht, Konsequenzen zu ziehen. Seltsam nur, dass er sich nie zu einer direkten Aussprache mit mir durchringen mochte. Ihm war es wohl bequemer, ein grosses Maul zu führen und damit Drohkulissen zu bedienen als mich zur Rede zu stellen. Belastend genug, so oder so. Der Konflikt verstärkte sich noch durch ein lächerliches Gezänk um die Verleihung des Professorentitels an mich. Ich vertrat die Meinung, Rektoren von Hochschulen würden ex officio das Recht darauf haben, während der fragliche Fachhochschulratspräsident der Ansicht war, man müsse den Titel unterlegen mit wissenschaftlichen Arbeiten. Während also meine Rektorats-Kolleginnen und -Kollegen aus Wirtschaft, Sozialer Arbeit, Musik und Architektur fleissig noch den letzten Text, den sie vielleicht vor zehn Jahren in irgendeinem katholischen Amtsblatt veröffentlicht haben, in ein Mäppchen legten, um zu beweisen, dass sie eines Professorentitels würdig sind, weigerte ich mich standhaft, irgendwelche Arbeiten beizubringen, die den Titel legitimiert hätten.  

    Auch privat hing damals einiges schief bei mir, verstrickt in einer Beziehung über Tausende von Kilometern hinweg. P. studierte in Yogyakarta Psychologie. Wir hatten uns im Verlauf der vergangenen Jahre einige Male gegenseitig besucht und verstanden uns im Bett wesentlich besser als ausserhalb. Ich erlebte mich, was meine Alltagsansprüche anging, in seiner Gegenwart einsamer als allein. Klassische Musik, Museumsbesuche, Würste aus Schweinefleisch, Lektüre und Wandern fielen in seiner Gegenwart aus den Traktanden. Gleichzeitig aber bezeichnete er mich als Mann seines Lebens und hatte ernsthaft die Absicht, nach Abschluss seiner Studien den Rest meiner Lebtage mit mir zu verbringen. Das konnte meiner Ansicht nach nicht gut enden, und ich trug mich mit dem Gedanken, diese Fernbeziehung endlich zu beenden, was mir umso schwerer fiel, als ich P. über alle Massen mochte.

    Im Verlauf desselben Jahres pflegte ich auch einen lockeren Kontakt zu A. in Kalkutta. Ich kannte ihn persönlich nicht, doch die unverbindlichen Plaudereien im Chatroom, wo wir uns zufällig getroffen hatten, waren witzig und unbeschwert. Diese gelegentlichen Interaktionen trugen dazu bei, dass ich zu jener Zeit nicht depressiv wurde. A. erzählte mir, dass er zwei Neffen grossziehe, da deren Mutter sich dazu überfordert fühle, nachdem ihr Mann, Vater der beiden, bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Die Buben waren damals sieben und acht Jahre alt. Sie sahen entzückend aus, wie ich den zugesandten Bildern entnehmen konnte. A. arbeitete bei einer Bank, hatte aber eigentlich Geschichte studiert. Er stammte aus dem ostindischen Manipur, war gläubiger Christ und sah es als solcher für selbstverständlich an, familiäre Verantwortung zu übernehmen. Das imponierte mir und kam meinen eigenen Bedürfnissen nach familiärer Geborgenheit entgegen. Im Verlauf des Herbstes entschloss ich mich dann, die Festtage zum Jahresende zu benutzen, A. und seine Buben in Kalkutta aufzusuchen.  

    Bei meiner Ankunft vermittelte mir die Stadt den Eindruck, den ich bereits von meinen Besuchen von Städten in China und Afrika her kannte, dass nämlich die Welt zu gross sei, um sie wirklich erfassen zu können. Hilflos schrieb ich in mein Notizbuch: «Sie spucken wie die Vögel scheissen: sequenziell und nicht in einem Schuss. Hier alles sehr laut, sehr verschmutzt. Irgendwie verlaufen sich die Gedanken in die Verirrung, jeder ist sich selbst der Nächste, man schlängelt aneinander vorbei, wenn im Auto, dann mit lautem Hupen.» Kalkutta verkörperte in idealer Weise das Chaos in meiner Seele. Da war die Trennung von P. von einer Telefonkabine aus. Ich rief ihn an, wünschte ihm alles Gute zum neuen Jahr und kündigte an, dass es mit uns wohl ein Ende habe. Als ich den Hörer auf die Gabel zurücklegte, weinte ich auf offener Strasse. Und: anstatt familiäre Gefühle für A. und seine Boys zu entwickeln, kam ich schon bald zum Schluss, dass ich in Kalkutta und mit A. an der Seite wohl kaum je glücklich würde. Ich war hier genauso hilflos wie in diesem Scheiss-Luzern, wo mir der Chef im Verlauf dieses Jahres das Leben so schwer gemacht hatte.

    A. lebte mit seinen Buben in einer von seiner Arbeitgeberin, der Bank, zur Verfügung gestellten Wohnung. Der Flur vor der Wohnungstür war grösser als das Appartment selbst. Dort spielte ich mit den Kleinen Fussball. Es kam vor, dass der Ball über die fensterlose Brüstung sprang. Dann mussten wir ihn im Hof vier Stockwerke weiter unten holen. Die Luft war geschwängert vom Rauch unzähliger Kohlefeuerchen, die in dieser Stadt für die Zubereitung von Speisen und zum Wärmen der Hände loderten. Man sah abends keine zehn Meter weit, so dicht war er. Er räucherte auch die Kleidung. Es war bitterkalt. - Und doch: mit jedem Tag stieg mein Respekt für diese Stadt. Sie war eine Metropole mit imposanten Universitäten, eindrücklichen Tempeln, lebendiger Literatur, U-Bahnlinien und grossartigen Gedenkstätten und Museen. Sie war keineswegs nur das Drecksloch, wie ich es mir vor meiner Ankunft ausgemalt und bei meiner Ankunft vorgefunden hatte. Mein Bild von Kalkutta war halt geprägt von der Tätigkeit der Mutter Theresa, der kosovarischen Sterbekönigin, der indischen Göttin Kali gleich. Ich kam zum Schluss, dass Mutter Theresa wohl die übelste Botschafterin Kalkuttas war. Sie versaute den Ruf dieser Stadt mit ihrer schon fast obszön anmutenden öffentlichen Hingabe für die Ärmsten in einer Weise, die die stolze Stadt Kalkutta nicht verdient hat. Ich wanderte in Parks, gewöhnte mich allmählich ans Gewusel und besuchte angesagte Restaurants und fragte mich, wie es die Frauen hier machen, dass ihnen ihr Sari-Umhang nicht von ihren Schultern gleitet. Ich wagte mich mit der Zeit auf die fast undurchdringlichen Märkte der Stadt und begann, ab und zu auch ein Häppchen Frittiertes zu kosten, das mir am Wegrand angeboten wurde. Allerdings wurde die Anfreundung an die fremde Umgebung durch die Gewissheit erleichtert, ein Retour-Ticket in der Tasche zu haben.

    Zum Jahreswechsel mieteten wir ein Fahrzeug mit Chauffeur und machten eine mehrtägige Wallfahrt zur Tempelstadt Puri am Golf von Bengalen. Ich erinnere mich, wie mich A. bei jedem Kauf eines Souvenirs belehrte, dass ich es viel zu teuer erstanden hätte. Jetzt galt ich als blöder Westler, der sich überteuerte Waren aufschwatzen liess, was mir die Freude am erstandenen Gegenstand drastisch minderte. Ich nahm mir vor, von nun an ihm gegenüber niedrigere Preise zu nennen, wenn er danach fragte, und einmal erregte ich so anerkennendes Staunen, als ich ihm ein aus Rinden geschaffenes Leporello zeigte, auf welchem handgeschnitzt Kamasutra-Szenen abgebildet waren. Ein Schnäppchen, meinte er, nicht wissend, dass ich dafür wesentlich mehr hingelegt hatte…

    Puri im indischen Staate Odisha ist für jemanden wie mich insofern uninteressant, weil ich als Nicht-Hindu die grossen Tempelanlagen von Jagannath gar nicht besuchen durfte. Ich wurde in einer verstaubten Bibliothek gegenüber des heiligen Viertels abgestellt, von wo aus ich aus der Ferne das imposante Geviert betrachten konnte. Der Christ A. hingegen und seine beiden Ziehsöhne zückten ihre Identitätskarten, die sie als indische Staatsangehörige auswiesen, und wurden eingelassen.

    Mehr actions für mich fand später vorne am weiten Sandstrand statt. Da war ich die Attraktion des Ortes. Alle, wirklich alle, die unsere Stelle passierten, wollten ein Bild mit mir schiessen. Ich war unglaublich begehrt und wurde viele Male abgelichtet, wie ich ganze Familien umarmen und in die Kamera lachen durfte. Eigentlich wollten sie nichts weiter von mir wissen. Eine Fotografie mit einem Fremden war ihnen genug, um sie irgendwo auf ihrem Hausaltar auszustellen. 

    Jetzt befanden wir uns bereits im neuen Jahr. Ich schrieb dazu: «Die Geschichte mit P. geht irgendwie weiter, ich denke unaufhörlich an ihn, wie überhaupt alles irgendwie weitergeht. Das ist sowieso eines meiner Lieblingsthemen, dass sich Veränderungen oft erst nachträglich erkennen lassen. Natürlich, man kann Veränderungen herbeiführen, indem man den Wohnort wechselt, die Arbeit wechselt, den Partner wechselt, aber oft geht die gleiche Chose in neuen Kleidern weiter. Das Äussere hat zwar gewechselt, doch das Innere noch nicht zwangsläufig. Verändere ich mich denn innerlich? – Schwierig, es selbst zu beurteilen.»

    Zum Abschluss meines Aufenthalts wünschten sich meine Gastgeber ein Schweizer Essen. Zuerst dachte ich an ein Käsefondue, doch ich musste feststellen, dass ich dafür wohl etwas viel Logistik mit unsicherem Ausgang hätte betreiben müssen. Wo hätte ich mir ein Caquelon und lange Gabeln ausleihen können? Auch dem Käse traute ich nicht, und das verfügbare Fladenbrot vom Markt hätte sich wohl nur begrenzt für dieses Vorhaben geeignet. Also Rösti. Beim Kartoffelkauf wurde ich von einem Dutzend Einkaufshelfern begleitet. Alle priesen unterschiedliche Kartoffelsorten an, die dort auf dem Boden zu Türmen aufgeschichtet lagen. Blitzartig kam mir das Fehlen eines Sparschälers in den Sinn, was den Entschluss erleichterte, für die Rösti gekochte Kartoffeln zu verwenden, bei denen das Schälen der Haut wesentlich leichter fällt. Dazu machte ich eine Hühnerfricassée an Kokosmilch, was ich so noch nie ausprobiert hatte. Da aber A. und den Buben der Vergleich fehlte, passierte das Gericht als Schweizer Spezialität ohne Tadel…

    Dann der Abflug. Der Flughafen damals ein Albtraum, in allen Teilen vernachlässigt, staubig und mit sturem Personal versehen. Bei meiner Ankunft zehn Tage zuvor schon der Schock, dass mein Koffer bei der Gepäckausgabe nicht dabei war, und ich in Kalkutta erst einmal Zahnpasta, Socken und ein paar Ersatzunterhosen kaufen musste. Als wir Tage später nachschauen gingen, ob mittlerweile der Koffer angekommen sei, schien ich dort der erste zu sein, dem je ein Gepäckstück verloren gegangen ist. Niemand kannte das Procedere, alle stellten sich an, als ob sie vorher noch nie mit dieser Art von Problemen konfrontiert gewesen wären.

    In der Maschine der Binam Bangladesh Airlines vor dem Start dann die Verlesung eines Gebets. Und die Zwischenlandung später in Dhaka kündigte der Pilot mit «inshallah» an. Nun gut, ich bin immer noch da. A. schickte mir später ein SMS des Inhalts, die Buben hätten als liebstes Erinnerungsstück an mich meine gebrauchten Zahnstocher in ihre Vitrine gestellt. 

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©Nikolaus Wyss

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 Noch ein paar Städtebemerkungen hier zum Anclicken:

"Zurückbleiben bitte" - Berliner Impressionen

 - Meine Mexiko-Wochen

- Zürich, Ende September

- Ein Tag in London

- Wieder in Bogotá

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Donnerstag, 4. Januar 2024

Adieu Paris - Paris adieu

 

Für eine Fahrt nach Brüssel empfehlen die Schweizer Bundesbahnen den TGV über Paris. Laut Fahrplan stehen dem Fahrgast ganze 45 Minuten zur Verfügung, um von der Gare de Lyon zur Gare du Nord zu gelangen. Was für ein Gehetze. Vor vielen Jahren habe ich das einmal gemacht mit meiner Mutter im Schlepptau. Nie wieder. Ich entschied mich deshalb, diesmal in Paris einen Zwischenhalt einzulegen und erst am darauffolgenden Morgen weiterzufahren nach Belgien.

Als ich in Paris ankam, regnete es. Ich spannte meinen Knirps auf, buckelte den kleinen Rucksack und unterzog den neu erstandenen Schuhen einem Wassertest. Ich wanderte der Seine entlang, erwischte fotografisch eine Taube beim Abflug, tauchte später ins Gewusel des 2. Arrondissement ein, um von dort, immer der Nase nach, meine Absteige an der Rue Notre Dame de Lorette im 9. Arrondissement zu erreichen. Auf dem Weg legte ich in einem Bistro einen Zwischenhalt ein und ass libanesisch anmutende Speisen. Was mir auch diesmal auffiel, und was schon meine früheren Paris-Eindrücke prägte, war die Attitüde der Kellner. Sie performen in einer Mischung aus Nonchalance, Arroganz und Eleganz, die ich in dieser Ausprägung von keiner anderen Stadt her kenne. Sie geben dem Gast jederzeit das Gefühl, sich hier in Paris zu befinden, dem zivilisatorischen Zentrum der Welt. Hier diktiert als legitime Vertretung der Parisiens das Servierpersonal die Verkehrs- und Verhaltensregeln, denen man sich als Gast gefälligst zu unterwerfen hat. Für Einheimische kein Problem, doch für Besucher von auswärts stets eine Lektion. Sollten diese zudem des Französischen nicht ausreichend mächtig sein, so fällt man ganz durch und wird mit Geringschätzung und Nichtbeachtung bestraft. Das übertriebene Trinkgeld zum Schluss, das eigentlich als Beschämungsversuch gemeint war, wird als selbstverständlich und ohne ein Zeichen von Irritation einkassiert.

Was mich früher in Paris faszinierte, kam mir diesmal verkrustet vor. Als ob Paris in seiner eigenen Falle stecke, in einer Attitüde, die dem Neuling und dem unerschütterlichen Paris-Fan zwar immer noch Respekt abverlangt und imponiert, welcher aber auch eine gewisse Lächerlichkeit innewohnt, weil sie ohne Ironie und ohne spielerische Variation seit 50, vielleicht seit 100 Jahren dieselbe ist. Es ist dieselbe Aufführung, wie sie schon den Künstlern Francis Picabia, Fernand Léger, Pablo Picasso oder Getrude Stein dargebracht wurde, von der auch meine Mutter sprach, als sie vor dem Krieg ein Französisch-Semester in Paris absolvierte, eine Aufführung, in deren Genuss auch Yves Montant, Jacques Brel und Jacques Dutronc kamen, oder Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit ihren existentialistischen, feingeistigen Compatriots im Café de Flore oder im Les Deux Magots, damals noch mit einer Pfeife oder einer Gitanes oder Gauloise aus Maispapier im Mundwinkel und – natürlich – einer Baskenmütze schräg auf dem Kopf, einem Béret.

Ja, die Kundschaft hat sich mittlerweile rundum erneuert. Die Stadt von heute steht in grossen Teilen gewandelt da. Neue Museen, Strassen, imposante Gebäude und Radwege prägen nun ausserhalb des innersten Kreises das Stadtbild. Doch die Kellner sind geblieben, ob sie aus Marokko, Algerien oder aus den Banlieues stammen. Sie gehören zu Paris wie der Eiffelturm. Sie stellen sicher, dass sich in Paris jedes Mal ein spezielles Bewusstsein einstellt, das keinen Zweifel aufkommen lässt, wo man sich befindet. Sie verkörpern die Identität des Ortes, trennen diejenigen, die dazugehören, von denen, die zugelaufen sind.

Als Besucher verdanke ich der Stadt viel. Hier sah ich zum ersten Mal ein Stück von Fernando Arrabal und liess mich verprügeln, weil ich die Hand hob ohne zu wissen, was «frapper» heisst, worauf ich in die Arena gezogen wurde. Man stülpte mir eine Papiertüte über den Kopf und verhaute mich gehörig. In Paris sah ich grossartige Ausstellungen und besuchte immer wieder meine Lieblingsmuseen. Lange war es das Musée des Arts et Métiers, welches stets mein Bewusstsein stärkte, doch das richtige Studium, nämlich Volkskunde und Ethnologie, gewählt zu haben. Ich wandelte durch die Strassen der Rive Gauche im Wissen um die Möglichkeit, Pierre Bourdieu zu begegnen. Ich besuchte Herrensaunen im Wissen um die Möglichkeit, auf den schlüpfrigen Fliesen Michel Foucault über den Weg zu laufen. Den ersten Aufstieg auf den Eiffelturm schaffte ich in Gesellschaft meines Patenkindes Daniel, später dann noch mit Padi und noch später mit Chuma und zuletzt mit Danika. In Paris knüpfte ich meine Kontakte zu Afrika, in Paris sah ich jedes Mal inspirierende Theaterstücke und Opernaufführungen. Unvergesslich zum Beispiel der Saint François d'Assise von Olivier Messiën in der Opéra de Bastille, 2004. In Paris ass ich zuweilen unterirdisch schlecht und nie wirklich erstklassig (ausser bei den Arabern mit ihren Couscous und anderen Köstlichkeiten). Höhepunkte fanden für mich aus einem Land ohne U-Bahn oft auf langen Metro-Fahrten statt, wenn ich an brillanten Musikanten vorbeikam, welche die langen Umsteigetunnels in Tonhallen verwandelten. In Erinnerung an Paris kommt mir auch noch das Belangloseste in den Sinn: einmal schiss mir eine Taube auf den Kopf. Und so fort.

Ich schreibe über mein Paris, weil ich mich von dieser Stadt verabschieden will. Dankbar, dass es sie gibt, dankbar, dass ich mich an ihr immer mal wieder reiben konnte, doch einsichtig genug auch anzuerkennen, dass ich mich dort nie richtig heimisch fühlte. Sie war eine Art Disneyland (wo ich übrigens nie war), wofür ich jeweils viel Geld ausgab und jetzt zu zweifeln beginne, ob ich heute den erhofften Gegenwert noch bekomme. Ich kenne die Theateraufführung dieser Stadt mit den Tausenden von Statisten in den Restaurants zur Genüge, ich muss mir nicht mehr von jedem Kellner mit seinem lächerlichen Gehabe vorführen lassen, dass ich mich jetzt in Paris befinde. Ich entscheide mich, die Metropole jetzt aufs Niveau eines Umsteigeortes zu degradieren, zu einem französischen Olten sozusagen. So, wie die Taube weiss, wohin sie gehört und noch über Hunderte von Kilometern hinweg den Heimweg findet, so weiss ich, dass ich nicht nach Paris fliegen würde, wenn ich heimkehren müsste. Ich flöge vermutlich nach Bogotá, auch wenn ich dort nicht zu den Einheimischen zähle. Aber wenigstens bilden sie sich dort nicht ein, der Nabel der Welt zu sein. Das verbindet mich schon ein bisschen mit dieser Stadt. 

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©Nikolaus Wyss

 

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 Noch ein paar Städtebemerkungen hier zum Anclicken:

 

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 - Meine Mexiko-Wochen

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- Wieder in Bogotá

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Mittwoch, 1. November 2023

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 8)

 16. Juli 2024

    Im Averstal: Abgestiegen und übernachtet in der Walserstuba in Avers-Cröt, wo Chefkoch Simon und seine kolumbianische Partnerin Estefania wirten. Er war in Kolumbien ein bekannter Fernsehkoch und arbeitete während 27 Jahren an den besten Adressen des Landes. Jetzt macht er die Walserstuba Avers zur besten Adresse des Tales. Am meisten beeindruckt hat mich eine simple Vanille-Eiscrème, die mit Zitronenolivenöl übergossen und mit etwas fleur de sel verfeinert wird. Ein Traum. - Für Heimweh-Kolumbianer wird an dieser Wegbiegung auch kolumbianisches Bier ausgeschenkt, und, wer wott, kann auch Empanadas und andere kolumbianische Köstlichkeiten bestellen. Ich hielt mich aber an Leberli vom Angus-Rind (gestern) und an ein hervorragend gewürztes Schweinskotelett mit Polenta (heute). Am Haus flattert neben einer Schweizer- und einer Bündnerflagge auch eine kolumbianische. 

    Bin etwas müde vom Ausflug entlang des Murmeltier-Lehrpfades und später talabwärts auf der alten Averserstrasse, einem landschaftlich unerhört schönen Weg über pitoreske Steinbrücken und durch lauschige Arvenwäldchen. Beeinträchtig wurde der einsame Wandergenuss nur durch meine kürzlich gemachte Erfahrung, sinnlos zu stolpern und zu stürzen. Deshalb schenkte ich meine ganze Aufmerksamkeit den nächsten Schritten und schaute genau, wohin ich trete. Damit nicht genug. Plötzlich bekam ich in dieser Abgeschiedenheit Angst vor Bären. Was müsste ich unternehmen, wenn mir plötzlich so ein Kraftpaket entgegenkäme? - Ich hielt in der Folge Ausschau nach einem grossen Stecken am Wegrand. Doch dort lag nur morsches Fallholz. Ich übte schon mal, mich aufzuplustern und grunzte vor mich hin. Das musste ein seltsamer Anblick gewesen sein. Fast wäre ich hingefallen...

September (1) 2023

     Meine letzten Wochen waren etwas anstrengend, denn es zeigte sich, dass ich jetzt doch noch den kolumbianischen Führerschein machen muss. Und das nach 55jähriger unfallfreier Fahrpraxis. So ging ich brav 35 Stunden in die Theorie und machte die seltsame Erfahrung, dass hier die Gesetzgebung durchaus streng ist, aber dass sich im real existierenden Strassenverkehr kein Schwein daran hält. Das ist für einen Fahrschüler etwas stressig, weil er in zwei Welten zurechtkommen muss, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben (wollen). Auch seltsam ist, dass man hier die Höhe der Bussgelder auswendiglernen muss (z.B. Fahren ohne Führerschein: 8 Tagessätze des Mindestlohnes; Geschwindigkeitsübertretung: 15 Tagessätze; Verhinderung der freien Fahrt von Feuerwehr und Rettungsfahrzeuge: 30 Tagessätze; Fahren im besoffenen Zustand: 90 Tagessätze; bei vierfacher Wiederholung 450 Tagesätze...)

    Ich warf im Kurs ein, dass die Polizei doch schon wisse, was bei einem Vergehen zu verlangen sei, worauf alle lachten. Denn es zeigt sich, dass die Polizei hier nicht so sehr darauf aus ist, Bussen zu verteilen, sondern Schmiergelder einzukassieren, um keine Busse ausrichten zu müssen, von denen sie mit ihrem Minimallohn ausser administrativem Aufwand nichts haben. Wahrscheinlich muss man hier die Höhe des Bussgeldes gerade deshalb wissen, um in etwa abschätzen zu können, wie hoch man beim Schmieren gehen muss, um keine Busse entrichten zu müssen, nämlich ganz wenig unter dem möglichen Bussgeld...

    Nun gut, ich war gestern ziemlich nervös, als es um die Prüfung meines angelernten Wissens ging. 40 Fragen vor dem Computer waren zu beantworten. Manche Fachausdrücke auf Spanisch kannte ich nicht und musste darum auf das Übersetzungs-App meines Handys zurückgreifen. Gottseidank klappte es. Ich beantwortete 94 Prozent der Fragen richtig, habe also die Prüfung bestanden. An meiner Erschöpfung am Nachmittag merkte ich aber, dass mich die Angelegenheit doch ziemlich gestresst hatte. In ein paar Tagen muss ich mich jetzt noch hinter das Steuer eines Autos setzen und denen zeigen, dass ich eines Führerscheins würdig bin. Dort werde ich dann Regeln anwenden müssen, die in der Theorie nie zur Sprache gekommen sind... 

Nachtrag: mittlerweile habe ich die praktische Prüfung auch bestanden und bin stolzer Besitzer eines kolumbianischen Führscheins. 

September (2) 2023

    Was mich heute daran interessiert, ist die Fallhöhe. Da war ich also 1996 "Botschafter von Schwamendingen" aufgrund meines "hervorragenden Einsatzes" zu dessen kultureller und gesellschaftlicher Belebung. - Auch wenn die Amtszeit schon vor 26 Jahren zuende gegangen ist, hat mich offenbar diese Auszeichnung bis nach Kolumbien begleitet, wo ich sie kürzlich in einer vor sich hinmodernden Bananenschachtel wieder entdeckt habe. Und ich frage mich aus diesem Anlass, was könnte ich alles als Ex-Botschafter Schwamendingens hier in Bogotá zu Ehren meines früheren Wohnquartiers ausrichten? Eine Schwamendinger Botschaft errichten? Den Schwamendinger Opernchor mit kolumbianischen Zuzügern wiederaufleben lassen? Sommertheater organisieren wie weiland in der Ziegelhütte? Führungen organisieren durchs Bogotaner Niemandsland? Der Genossenschaftsbuchhandlung "Büchertreff Schwamendingen" neues Leben einhauchen? (Immerhin arbeitete ich vor 53 Jahren hier in Bogotá auch  einmal als Buchhändler in der Libreria Buchholz. Das war, bevor ich nach Schwamendingen gezogen bin - auch so eine Fallhöhe, einfach rückwärts).
    Ich glaube, die Kolumbianer hätten schon Mühe, "Schwamendingen" auszusprechen...
    Noch bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Urkunde einrahmen soll und woraus der Rahmen bestehen könnte. Aus gradlinigem Holz? Aus Aluminium (weiss, metall, farbig lackiert)? Aus einen Firlifanz-Schnitzwerk? Oder ist es an der Zeit, diese Zeit sein zu lassen? Sie der weiteren Vermodernung auszusetzen? Schwamendinge, was seisch? Wo bisch? Kennt mich dort überhaupt noch jemand?
 

10. Oktober 2023

    Korruptiönchen: Heute kam der Gasmann vorbei, denn alle fünf Jahre müssen die Anschlüsse geprüft werden. Akribisch mass er alles aus und schnüffelte mit seinem Sensor den Leitungen entlang. Dann befand er, der Boiler befände sich zu Nahe an der Wand und müsse neu gesetzt werden mit drei Zentimetern Abstand zur Mauer. Er protokollierte alles fein säuberlich und meinte zum Schluss, eigentlich müsste er in einem Monat wieder kommen, um zu schauen, ob wir die Beanstandung erledigt hätten. Dies würde nochmals denselben Betrag generieren wie heute, nämlich 70.000 Pesos. Doch er hätte einen Vorschlag. Wir könnten ihm auch eine Foto schicken vom Vollzug, dies würde genügen und ihm den Weg ersparen. Wieviel wir denn bereit wären, ihm entgegenzukommen, damit die Sache für erledigt erklärt werden könnte? 

    Gesagt, getan. Jetzt haben wir für die nächsten fünf Jahre wieder Ruhe und können frohgemut weiter unsere Longanizas braten. Auf das Foto wird er noch etwas warten müssen.

Im Oktober 2023

   Plötzlich tritt Herr Knecht ganz klar vor meine Augen, Hermann Knecht. 1974 mein erster Nachbar an der Bocklerstrasse in Schwamendingen. Auf demselben Stockwerk gegenüber. Der Mann hatte früher, soweit ich mich erinnere, auf dem Bau gearbeitet und sich dabei geschlissen. Alles tat ihm weh, sein Knie schmerzte besonders. Arthrose, sagte er knapp. Doch einen Doktor hätte er deswegen nie an sich herangelassen. Die würden alles nur schlimmer machen, meinte er und lachte dabei rauh, ohne dabei die Zigarette in seinem zahnlosen Mund zu verlieren. Er rauchte wie ein Schlot und trank sein Bier im Sechserpack.

    Herr Knecht ist mir heute präsent, als ob er gerade vorhin die Treppe hinuntergehumpelt wäre, gestützt auf einen Ellbogenstock als Gehhilfe. Noch bevor er den unteren Stock erreicht, hielt er auf dem Treppenabsatz jeweils inne und schlug mit seinem schmerzhaften Bein aus, als ob er einen Ball fortschiessen  oder einen bissigen Hund verscheuchen wollte. Dann ging er weiter und fluchte vor sich hin.  

    Herr Knecht war mir während Jahrzehnten nicht mehr präsent. Er muss wohl schon längst gestorben sein. Ich war damals, vor 50 Jahren, 25, er wohl über 60. Irgendwann wechselte er ins Pflegeheim. Seinen Auszug aber habe ich nicht mitbekommen. Wahrscheinlich war ich grad unterwegs, in Deutschland vielleicht, oder in Paris. Jetzt aber taucht er vor meinem inneren Auge wieder auf, ohne dass ich viel über ihn zu erzählen wüsste. Doch er erscheint mir, weil mein linkes Knie zu schmerzen beginnt. Ich überlege mir schon, als Gehhilfe einen Stock zu kaufen, so wie Herr Knecht einen hatte. Mit Ellenbogenstütze zur Entlastung des Beines.

    Herr Knecht bekam zuweilen Besuch von Tanja, einer unscheinbaren Frau mit Kopftuch und gebrochenem Deutsch. Sie stammte aus dem Balkan und arbeitete in einem Restaurant als Küchenhilfe. Wenn sie da war, roch es im Treppenhaus nach gerösteten Zwiebeln. Sie räumte bei Hermann etwas auf, wechselte die Bettlaken, wusch seine Wäsche und verhalf ihm vermutlich auch zu einem entspannten Stündchen. Dies hielt Herrn Knecht aber nicht davon ab, sie als "Kuh" zu bezeichnen: Gestern sei die Kuh zu Besuch gekommen, sagte er zum Beispiel, oder: die Kuh ist in den Ferien und kommt jetzt für eine Weile nicht. Schöne Schiisdräck.

    Meine eigenen Knieschmerzen rücken mich plötzlich näher zu Hermann Knecht. Mein Mitleid für seine Schmerzen damals äussert sich erst heute. Damals sah ich in ihm einfach den alten Mann, der sich nicht geschont und dafür die Quittung bekommen hatte. Und jetzt ich, der sich sein Leben lang schonte und sich körperlich nie wirklich forderte, wenn man einmal absieht von einer Velotour nach Berg-Dietikon, die mir als Grenzerfahrung in Erinnerung bleibt, jetzt ich also, der auf dem Treppenabsatz auszuschlagen beginnt und einen Moment innehalten muss, bevor er den zweiten Teil in Angriff nehmen kann. Nein, fluchen tue ich deswegen nicht, aber zum Arzt möchte ich auch nicht gehen. Macht der nicht alles noch viel schlimmer? 

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©Nikolaus Wyss 

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Mittwoch, 20. September 2023

The Lonesome Cook (Serie 2)

 12. September 

    Die heutige Kocherei des LONESOME COOK mündet in allerlei abwegige Feststellungen. Einige davon sind mir peinlich, andere sind schlicht langweilig. Um mit letzteren anzufangen: das Koch-Setting gleicht sich von Mal zu Mal. Ich improvisiere, was der Kühlschrank hergibt, und zum Schluss sieht es immer gleich aus, schmeckt immer ähnlich und ist eigentlich keiner vertieften Beschreibung wert. Gemüse, Salat, heute Pasta, und ein Anschnitt von Poulet. Beim Anschneiden des Huhns entdeckte ich nämlich, dass das Innere noch nicht ganz durchgegart war. So schnitt ich etwas am Rand ab und legte den Rest zurück in die Pfanne, wo er ein paar Minuten noch weiterschmoren durfte. Doch mit der Foto mochte ich nicht zuwarten, so wenig ich bereit war, die Pasta und das Gemüse kalt werden zu lassen. 

    Das Stückelchen Huhn auf dem Teller bringt mich nun zur Feststellung, die nicht ohne Peinlichkeit kommunizierbar ist. Dazu muss man wissen, dass der Begriff eines "pollo", eines Hähnchens also, hier in Kolumbien auch für attraktive Jungs gebraucht wird, eines Typus Mensch, der durchaus bereit ist, offenherzig sexuelle Freuden mit anderen zu teilen. Und wenn der andere schon etwas älter ist, sagt das Hähnchen auch nicht nein, dafür einen Geldschein entgegenzunehmen. Weiter muss man wissen, dass ausgerechnet heute Chefinterviewer David Karasek von Radio SRF im Rahmen des Mittagsgesprächs die beiden Historikerinnen von der Uni Zürich zum Missbrauchsreport der katholischen Kirche befragt hat, der zur Zeit die Schweiz zu Recht in helle Aufregung und Erschütterung versetzt. Doch statt in den Chor der Empörten miteinzustimmen, denke ich, in den braven Schweizer Durchschnittsfamilien findet doch ein Vielfaches dessen statt, was jetzt an sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche tröpfchenweise bekannt wird. Ist da die landesweite Empörung nicht etwas geheuchelt, weil sie ausser acht lässt, was sich hinter den Kinderzimmertüren der Familien Biedermann alles so abspielt? 

    Statt also die Empörung nachzuvollziehen, fiel mir unstatthafterweise der französische Pornoproduzent Jean Daniel Cadinot ein, der in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Videos mit attraktiven Jungs drehte, die sich einmal in einer Berghütte trafen und sich das andere Mal in einem Pfadfinderlager verlustierten. Ein Video blieb mir dabei in besonderer Erinnerung und poppte ohne meinen Willen ausgerechnet heute während der Radiosendung vor meinem geistigen Auge auf. Die Handlungen spielten nämlich in einem katholischen Konvent. Natürlich waren dabei die Priester keine alten Säcke sondern gutgebaute, junge Männer, denen man es aber wegen der Soutane erst ansah, wenn sie diese hochhoben, um den Jünglingen und Missbrauchsopfern Zugang zu ihrer Lustquelle zu gewähren. 

    Ich schäme mich natürlich dieser unkontrollierten Gedanken, und die Röte steigt mir noch mehr ins Gesicht, wenn ich mich an meinen Wunsch in der Pubertät zurückerinnere, doch in ein Internat zur Schule gehen zu dürfen mit dem unausgesprochenen Bedürfnis natürlich, dabei nächtens in den Schlafräumen allerlei Unwesen zu treiben und erotische Abenteuer zu erleben. Darob vergass und vergesse ich noch heute gerne, dass nicht alle diese Fantasien teilen mochten und mögen, und dass das, was den einen (wie mir) Sehnsucht und Lusterfüllung verhiess, den anderen zuwider, übergriffig und traumatisierend war und ist.

Und ich stehe ratlos dazwischen, wohl wissend, was mehr zu gewichten wäre. Doch statt mir in aller Deutlichkeit vorzustellen, wie übel es den Missbrauchsopfern noch heute ergehen dürfte, entschied ich mich stattdessen herzlos, das mittlerweile durchgegarte Stück Huhn aus der Bratpfanne zu fischen und es mit einem gehörigen Rest von Genuss zu essen. 

    Es gibt Momente im Leben, wo einem der passende Reim nicht einfallen will, wo man sich mit seiner Fantasie aussergesellschaftlich, aussercommonsenslich und ausserordentlich schlecht vorkommt und doch nicht anders kann als irgendwo in reumütiger Grundhaltung abzuwarten, bis man wieder auf sichererem Terrain anlangt.


15. September

    Erst einmal muss ich mich erholen von der Entscheidung, das Mittagessen vom 12. September nicht online auf Facebook gestellt zu haben. Beim Kochen und gleichzeitigen Anhören des Mittagsgesprächs über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche kam mir, scheint mir, zuviel Unstatthaftes und Ungehöriges in den Sinn ist, um es zu veröffentlichen. So beliess ich meine Gedanken vorerst besser im Giftschrank. Hier auf meinem Blog jedoch befinden sie sich am richtigen Ort...
    Diesmal hingegen war die akkustische Berieselung beim Kochen vergleichsweise harmlos. Heute nehme ich lediglich aus dem täglichen Radioquiz "3von5" die Erkenntnis mit, dass die Tennisschläger von Amateuren im Schnitt breitflächiger sind als diejenigen von Profis. Der Quizkandidat, ein türkischer Goldschmied aus dem Schweizerischen Mittelland, wusste das so wenig wie ich, Entschuldigung Roger. Bei den restlichen Fragen allerdings lag der Türke völlig richtig und darf jetzt mit einem Gutschein von Fr. 108.- aufs Schilthorn reisen.
    Bei mir gab es diesmal Kartoffelstock und (schon wieder) ein Forellenfilet. Es ist nicht gut, im Tiefgefrierfach allzuviele kostbare Proteinen aufzubewahren, denn in letzter Zeit häuften sich die Stromausfälle in der Stadt, und dann kannst du das Zeugs wegwerfen wie neulich die vier Hühnerbrüstchen, die schon nach kurzer Zeit im Abfalleimer zu stinken begannen. Später sah ich sie angekafelt im Vorgarten herumliegen: Unsere Ratten im Keller rissen offensichtlich den Abfallsack auf verköstigten sich mit dem verdorbenen Fleisch.
Ich briet die Forelle an, die Hautseite besonders knusprig, legte das Stück beiseite und briet darauf in demselben Fett feingehackten Lauch und Karottenwürfeli an, löschte das Gemüse mit Weisswein ab, legte nach dem Einkochen das Fischfilet wieder hinein und schloss mit einem Gutsch Rahm den Kochprozess ab.
    Dazu gab es Tomaten- und Gurkensalat, und wieder einmal kam mir in den Sinn, was ich gestern im Supermarkt auch noch hätte kaufen wollen: Dill. - Das mit dem Gedächtnis wird offensichtlich nicht besser, aber ich bin noch nicht bereit, mir deswegen einen Postizettel vollzuschreiben.
    Mittlerweile sang Billie Eilish mit ihrer lasziven Stimme wunderbare Songs. Ich gehöre zwar nicht gerade zu ihrem Zielpublikum, doch sie gefällt mir ausserordentlich gut, vielleicht auch deshalb, weil ich vor längerer Zeit einmal einen Dokfilm über sie gesehen habe, woraus hervorgeht, dass ihr komponierender Bruder am Erfolg dieser jungen Dame massgeblichen Anteil hat. Family business.

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    Auf diese Publikation in Facebook bekam ich von Herrn Hannes Strebel folgendes Feedback: "Super kreative Küche! Das rote Plastic-Set mag praktisch sein, wirkt aber etwas bieder/billig."

    Ich antwortete darauf: "Danke für die Rückmeldung. Ich glaube halt, dass ich punkto Geschmack ziemlich bieder/billig unterwegs bin. Das hat man mir schon bei früheren Gelegenheiten öfters attestiert."

    "Erstaunlich für einen ehem. Direktor einer Kunsthochschule."

    "Die Rolle eines Chefs einer Kunsthochschule ist nicht, tonangebend Kunst und Design vorleben zu müssen. Das Lehrpersonal hat untereinander schon genug Streit, was geschmackvoll und ästhetisch befriedigend ist. Da konnte ich mich jeweils weit zurücklehnen... siehe auch 'Nur schwache Erinnerungen an Luzern'."


16. September

    Aus der Serie THE LONESOME COOK: Heute kochte ich zu den Rhythmen von Prince's "I feel for you" - Ich weiss nicht, ob dieses unglaublich mitreissende Stück, das mich beim Rüsten in die Finger schneiden liess, heute politisch noch korrekt wäre. Denn der Meister singt: "... I wouldn't lie to you, baby / It's mainly a physical thing / This feeling that I got for you, baby / It makes me wanna sing..." , mit anderen Worten, er findet dieses baby einfach geil, er besingt sie wegen ihren Formen und vielleicht auch wegen ihrer Begabung im Bett, und er möchte nichts anderes als Sex mit ihr. That's it. Geht das heute noch? Oder müsste er heute ausweichen und sagen, "du hast eine attraktive Seele, bist eine interessante Person, gehen wir Kaffee trinken, oder möchtest du lieber einen Drink?" und noch weiteres Gelaber von sich geben in der Hoffnung, mit ihr zum Schluss doch noch ins Bett teilen zu können? - Und, das ist selbstverständlich, sie müsste mit einem ausgesprochenen Ja auf sein Vorhaben antworten, sonst wird das heute nix, Meister Prince.
    Ich habe fünfmal hintereinander diesen Song gespielt, bis ich das Gemüse von vorgestern mit zwei Eiern, viel Pfeffer, einem Gutsch Soyasauce und etwas Parmesan vermischt und in einer Pfanne zu einer Art Tortilla angebraten habe. Die Kartoffelwürfeli schüttete ich ins heisse Oel und musste länger als gedacht warten, bis sie Farbe annahmen. In der Zwischenzeit schaute ich mir auf Youtube einige Prince-Auftritte an und erinnerte mich dabei an ein lautes Konzert im Hallenstadion Zürich. Damals beeindruckten mich am meisten seine Tanzkünste, wenn er zum Beispiel überraschend in einen Spagat grätschte, sich darauf rucklos wieder hochstemmte und dazu seine Gitarre zupfte und mit Kopfstimme sang.
    Heute allerdings bin ich auf youtube wieder einmal bei seiner Gitarrensolo-Version von CREAM gelandet und habe dabei seine fabelhafte Stimme, sein unglaubliches Gitarrenspiel und seine Bühnensouveränität bewundert. So geht Kartöffeli frittieren leicht von der Hand. 
    Also zum Schluss muss ich sagen: 1:0 für Prince. Das Essen heute gehörte eher zur Kategorie Ernährung statt zu derjenigen der Esskunst... Ich hoffte, mit etwas Ketchup das Schlimmste noch abzuwenden...
 
* * *
Auf diese Publikation in Facebook bekam ich von Frau Silvia Barbara Haug folgendes Feedback: "Hast du keine Mühe, immer Bilder von vollen Tellern zu posten, im Wissen darum, dass wir in einem Land leben, in welchem mindestens 30% oder mehr mit 1 oder 2 kargen Mahlzeiten überleben müssen? "You're so vain..." (Carly Simon).
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Meine Antwort war die folgende: "Das Merkwürdige ist, dass es Kolumbianer lieben, ihre Speisen abzufotografieren und ins Netz zu stellen. Es vergeht keine Einladung in unserem Haus, an welcher zu Anfang der Mahlzeit nicht das Handy gezückt wird, um einen Schnappschuss zu machen. Ich bin also in guter Gesellschaft. 
Aber wie aus meinen Textlein hervorgehen sollte, schreibe ich  aus Anlass eines vollen Tellers eher über anderes, über meine Befindlichkeit, über mein Unvermögen, meine Fauxpas, meine Einsamkeit etc. 
Dass Hunger hier in Kolumbien ein Thema ist, ist mir wohlbekannt. Deshalb habe ich Sancocho-Lab ins Leben gerufen, eine Suppenküche mit gleichzeitiger Weiterbildung der Beteiligten. In einem Monat machen wir für den nächsten Ciclo ein Convocatorio. Hier noch ein Video des Pilot-Zyklus, mit welchem wir auf (erfolgreiche) Geldsuche gingen."
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Frau Haugs Einwurf provozierte einen weiteren Eintrag auf meiner facebook-Seite. Patrick Stahel schrieb: "Der Mensch braucht auch seine kleinen Freuden im Leben - überall im Sinne der politischen Korrektheit den moralischen Zeigefinger zu erheben, nervt mich gewaltig, Frau Haug!
Und der Song „You‘re So Vain“ von Carly Simon hat einen völlig anderen Kontext: Es geht um ihre Begegnung damals mit Mick Jagger.
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Frau Haug antwortete darauf wie folgt: "Ich lebe seit über 19 Jahren in Kolumbien und habe viele Jahre in Armenvierteln gearbeitet, in welchen eine 7-köpfige Familie 1 Zahnbürste teilt. Das hat mit Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu tun, nicht mit politischer Korrektheit oder moralischem Zeigfinger, Herr Stahel. Im Gegenteil. Ich tue im Kleinen etwas dagegen. Leben Sie mal von 2 Dollar im Tag, wenn der Bus zur Arbeit und zurück schon fast so viel kostet. Ich lade Sie gerne mal in eines dieser Armenviertel der Millionenstadt ein, auch wenn sich in viele von denen aus Angst nicht einmal die bestausgerüstete Polizei begibt. Mich nerven Leute, die auf dem hohen Ross sitzen, Herr Stahel. Auf mich trifft das wahrscheinlich nicht zu. 
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Zu mir schrieb Frau Haug auch noch: "Die Mehrheit der KolumbianerInnen, die ein kleinwenig Geld haben, leben von "apariencia". Sie sind bezüglich Handys noch in der pupertären Phase. Überall wird es als Status-Symbol als erstes gezückt, und dann wundern sie sich, wenn es im Bus geklaut wird. Wie sagt eine liebe Freundin aus Manizales stets: "Wir gingen vom Maultier direkt ins Weltall. Dazwischen fehlt alles."  
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Ich fühlte mich veranlasst, Frau Haug und Herrn Stahel folgendes zu schreiben: Eure Ansichten schliessen sich ja nicht ganz aus. Es ist in der Tat problematisch, sich mit Essenszubereitung, leiblichen Genüssen und Tischsitten zu befassen, wenn nur wenige Meter weiter weg Leute am Hungertuch nagen. Ich überlegte mir auch schon, aus Solidarität mitzuhungern. Siehe dazu auch dies. Ob das allerdings verstanden würde, ist eine andere Frage, und ob damit der Hunger der anderen kleiner würde, ist nochmals eine andere Frage. Die Zurschaustellung des eigenen Glücks ist etwas, was man überall beobachten kann. Ich habe in meinem Bekanntenkreis ein paar junge Menschen,  denen es genauso ergeht, wie Silvia Barbara Haug beschreibt. Haben sie aber einmal Gelegenheit, eine Diskothek zu betreten oder bei Crepes&Waffles ein Eis zu essen, so wird das in ihren Reels und Stories minutenlang festgehalten, was auch noch heisst, es wird lieber gehungert als aufs Handy verzichtet, das eben Kontakt bedeutet zur Welt.
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Darauf Frau Haug: "Das ist so. Ich habe viele Bekannte, die haben einen Schrank voller Kleider und billigen Schmuck, aber nichts zu essem im Haus. Für den Ton Herrn Stahel gegenüber entschuldige ich mich nicht. Ich lasse mir den moralischen Zeigefinger nicht bieten. Politisch korrekt war und bin ich allerdings immer. Seit ich 15 Jahre alt bin, engagiere ich mich immer vehement für die Benachteiligten, aber mit "dignidad". Ich bin stolz darauf, denn heute ist niemand mehr politisch korrekt (Martullo, Blocher, Mörgeli, Glarner usw. usw. usw.). Vom Ausland gar nicht zu reden. PS: Ich war acht Jahre lang als Vizeammann der SP mit zuständig für die Brugger Literaturtage, an welchen ich viele hoch interessante Begegnungen hatte."
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Ich: "Niemand muss sich hier entschuldigen. Es ging mir eher um den Tonfall"
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Haug: "Ok. Schlaf gut." 
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Stahel: "Wer nicht zu aller politischer Correctness und den Konsequenzen dieser Woke-Bewegung (alles importiert aus den USA 🇺🇸) gleich ja und Amen sagt, muss noch lange keine SVP wählen!
Ich lasse mir diesen Herbst zwar die SP-Liste einwerfen (weil ich national eine starke SP wichtig finde), was die Champagner-Garde rund um Corine Mauch etc. in den Städten ablässt, finde ich hingegen das Hinterletzte - in Zürich wähle ich deshalb die FDP. Und Sie müssen sich bestimmt nicht entschuldigen, ich aber auch nicht."
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Damit war die Diskussion noch nicht erschöpft. Es meldete sich der treue Stefan Keller mit folgendem Einwurf: "Um vielleicht auf deine Frage zurückzukommen: Mit was für feinsinnigen Ausweichgesprächen und intellektuellen Komplimenten haben wir doch schon vor vierzig Jahren versucht, den Damen politisch korrekt die Reissverschlüsse zu öffnen. Daran ist ganz und gar nichts neu: "Du hast eine attraktive Seele, bist eine interessante Person, gehen wir Kaffee trinken, oder möchtest du lieber einen Drink?"
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Worauf ich mich nicht entblödete, dies wie folgt zu beantworten: "Bei uns Männern ging das schneller. Einzig die Frage stand im Raum, trinken wir das Bier vor- oder nachher..." 
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Stefan Keller: "Tja. Gender gap."


17. September

    Das ist vermutlich für längere Zeit mein letzter Sonntags-Eintrag in der Rubrik LONESOME COOK. Meine Partnerin Joan Danika wird im Laufe der kommenden Woche sehnlichst aus Barcelona zurückerwartet, und das bedeutet unter anderem erhöhte Betriebsamkeit in der Küche und mit Garantie mehrere Gedecke, wofür dann an den grossen Tisch in der Sala gewechselt wird.
Die Bemerkung des facebook-Freundes Hannes Strebel von vorgestern, die Verwendung meines roten Tischsets sei etwas billig und bieder, veranlasste mich, für einmal auf eine grüngelbe Ausführung zu wechseln. Genauso billig, auch aus Plastik, aber eben anderster...
    Da ich gestern beim Betrachten der ZDF heute-show im Bett einschlief, nahm ich mir vor, die Sendung heute zum Mittagessen nachzugucken. (Die AfD beschäftigt - zu Recht - die Deutschen heftig und wird entsprechend auch in dieser Satire-Sendung abgehandelt. Die Partei gibt ja so viel humoristischen Stoff her wie weiland Donald Trump. Das Perfide jedoch ist, dass dies die AnhängerInnen keineswegs davon abhält, an die AfD oder weiland an Donald Trump zu glauben und darin die Verheissung einer glücklichen Zukunft zu erblicken.)
    Auch fürs Mittagessen aufgespart habe ich mir die verschiedenen Beiträge in der hiesigen Tageszeitung El Tiempo zum Tod von Fernando Botero. Immerhin verordnete die Regierung eine dreitägige Staatstrauer. Und vorsorglich öffnete ich, meine Gicht ignorierend, eine Flasche guten Weins aus Chile: einen jungen (2021) Carmenere "Medalla Real" aus dem Hause Santa Rita.
Und plötzlich schossen mir Tränen in die Augen. Ich bin ja eh nah am Wasser gebaut. Aber dieser Salsa-Song, den ich mir früher oft mit Danika anhörte, berührte irgendeine feine Ader heute, just als ich das Wasser für die Ricotta-Spinat-Ravioli aufsetzen wollte. Ich hätte damit das Wasser salzen können: "Dejala Que Corra" von Tirso Duarte. Das Lied handelt von einer Trennung, und der Sänger, der sie beklagt, bringt allen Grossmut auf und lässt die Geliebte gehen, was insofern bemerkenswert ist, als es in der hiesigen Gesellschaft nicht gerade wenig vorkommt, dass der Mann die Frau in einem solchen Falle tötet. Ganz besonders berührten mich die warm klingenden Posaunen ganz am Anfang und in der Mitte des Lieds, kontrastiert von den grellen Trompeten: seelischer Zwiespalt, musikalisch umgesetzt.
    Ravioli brauchen immer etwas länger als gedacht, und ich zupfte in dieser Wartezeit die feinen Scheiben des Serrano, des spanischen Rohschinkens also, auseinander und beseitigte die trennenden Papierchen dazwischen. Man kauft diese teure Delikatesse in 85g bis 100g Packungen und bezahlt mindestens 20.000 Pesos, was ungefähr 4.50 Franken entspricht, für hier ein Vermögen.
    Die Tomatensauce (aus feingehackten Zwiebeln und Knoblauch, abgelöscht mit etwas Weisswein, weil ich keinen Roten offen hatte, aus Kapern, Hühnerbouillon, Lorbeerblättern, geschälten Tomaten, Tomatenpüree und italienischen Gewürzen, vorgemischt von McCormick, Pfeffer, siehe auch hier), köchelte ich gestern für eine Mahlzeit mit unserer Putzfrau. Die Abmachung mit ihr sieht vor, dass sie uns einmal in der Woche aufsucht und das Haus sauberhält, und dass sie dafür, neben dem Lohn natürlich, jeweils auch ein Mittagessen serviert bekommt. Mit der Tomatensause zu den Nudeln gestern war ich etwas grosszügig und behielt einen Rest zurück, den ich heute, grosszügig verfeinert mit Butter, zu den weichgekochten und abgetropften Raviolis schüttete. Gestern gab es übrigens auch gebratenen Blumenkohl und Longanizas unseres Schweizer Metzgers Koller grad um die Ecke. Und Salat natürlich, der auch heute nicht fehlt.
    Ich weiss nicht, was mit unserer Katze los ist. Früher kam sie bei jedem Fototermin brav posieren. Jetzt lässt sie sich nicht mehr erbicken. Ich entschuldige mich dafür bei all denen, die den LONESOME COOK nur deshalb zur Kenntnis nehmen, weil sie einen Blick auf die Katze werfen wollen.

* * *
 Diesmal konnte ich Herrn Strebel vollauf zufriedenstellen. Er schreibt mir: "Ja, das sieht doch schon viel frischer aus, mit dem neuen gelb-grünen Set.
Mit Nikolaus Wyss verbindet mich im Übrigen, dass auch ich bei der heute-show eingeschlafen bin. Das liegt dann wohl eher an der Sendung der zunehmend staatstragenden deutschen Satiriker…"

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@Nikolaus Wyss 

 

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